Sakko zu knapp, Hose einen Fingerbreit zu lang und der Kragen falsch gebügelt. Simon Stierli mustert den Typen vor ihm am Bancomaten. Wie der wohl von vorne aussieht? Bestimmt trägt er einen doppelten Windsor zu schmalem Revers und kombiniert eine Kunststoffuhr mit silberner Gürtelschnalle. Ein Totalausfall.
Stierli schüttelt den Kopf. So würde er nie rumlaufen. Bei ihm stimmt einfach alles. Gürtel und Schuhe aus dem gleichen Leder, die Vintage-Uhr und das Kettchen – beides in Gold. Das Einstecktuch perfekt zum eierschalenfarbenen Hemd assortiert, dazu der massgeschneiderte Anzug aus Kaschmirwolle in der Farbe Smokey Taupe. Stierli hat die Old-MoneyÄsthetik als «Simon Style» in über 600 Instagram-Videos perfektioniert. Aktuell folgen ihm 982'012 Leute; in zwei Wochen wird er die Million voll haben.
Heute will er die Geldklammer, die ihm eine französische Luxusmarke zugeschickt hat, in ein Video einbauen. Deshalb der Gang zum Bancomaten. Unterwegs ist er dreimal um ein Selfie gebeten worden, das geschieht ihm sonst nicht alle Tage. Und wie krass die sich über die Fotos freuen! Nun ja, er sieht halt schon chic aus.
Hoffentlich ist die Modesünde vor ihm bald fertig. Stierli muss schliesslich heute noch ein Video produzieren. Endlich dreht sich der Typ im Billiganzug vom Bancomaten weg, doch sein Blick bleibt am wartenden Influencer hängen. Stierli breitet die Arme aus und denkt: «Ja, ich bin’s, Simon Style. Schau mich an, da kannst du was lernen.» Der andere grinst verlegen. «Willst du ein Selfie?», fragt ihn Stierli ungeduldig. «Nein danke», antwortet der, «aber du hast da einen wirklich grossen Saucenfleck auf dem Hemd.»
In der Glosse «Bancomat» erzählen wir kleine Geschichten aus dem bunten Alltag unserer Kundinnen und Kunden. «Bancomat» erscheint halbjährlich im Kundenmagazin «ValOr».