«Noch heute kriegen alte Händler glasige Augen, wenn sie sich an früher erinnern», sagt Jens Korte. Früher, das heisst 1999, da begann Korte am Fernsehen, im Radio und in Zeitungen über die New Yorker Börse zu berichten. In dieser Zeit unmittelbar vor dem Platzen der Dotcom-Blase und lange vor der Finanzkrise versammelten sich täglich um die 7000 Händler auf dem sogenannten Parkett, verfolgten die Kurse, kauften und verkauften, gewannen und verloren, begleitet vom auf- und abschwellenden Wirrwarr der Stimmen. «Das war Wahnsinn, die Energie spürbar», erinnert sich Korte, der als Journalist dort sein wollte, «wo etwas passiert».
Heute gebe es vielleicht noch 500 Händler, die ihren Beruf vor Ort, an der Wall Street, ausübten. Der Handel ist zum grössten Teil automatisiert. Computerprogramme bestimmen, wann gekauft und verkauft wird. Der Luncheon Club, wo sich einst die Elite der Händler traf, wo Elch- und Bisonköpfe an den Wänden hingen, wurde nach mehr als 100 Jahren aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen.
«Die Anleger sind bereit, ihr Geld in verrückte Ideen zu investieren.»
Geblieben ist Kortes Faszination für die New York Stock Exchange (NYSE). Sie sei der dynamischste Kapitalmarkt der Welt. «Hier sind die Anleger bereit, ihr Geld in verrückte Ideen zu investieren.» Die Risikofreude und der Spieltrieb seien tief in der amerikanischen Seele verankert. Rund die Hälfte der Amerikanerinnen und Amerikaner hat in Aktien investiert, auch wenn die Tendenz seit der Finanzkrise nach unten zeige. Die Aktienkultur sei eine komplett andere als in Europa. So hat Korte Gewinner und Verlierer erlebt, darunter solche, «die mit den Verlusten nicht klargekommen sind». Schweizer Kleinanlegern rät er auch wegen der Währungsrisiken davon ab, ihr Glück in New York zu versuchen: «Man soll dort investieren, wo man sich auskennt.»
Die Glocke klingt weiter
Die NYSE werde die globale Finanzindustrie weiterhin bestimmen, ist sich Korte sicher. Solange China seinen Kapitalmarkt nicht öffne, werde Schanghai trotz aller Dynamik der chinesischen Wirtschaft New York als wichtigsten Börsenplatz der Welt nicht ablösen – «auch wenn sich die USA mit Trump das Leben schwer machen». Doch wie steht es mit der NYSE als Ort? Vermag das Gebäude an der Wall Street 11 der Automatisierung und Digitalisierung des Handels zu trotzen? Korte ist überzeugt, dass die NYSE weiterhin physisch existieren wird. Sei es auch nur als «Marketingtool». Allein die Glocke, die zu Beginn und am Schluss des Handels geläutet wird, ist eine Marke für sich. Rund um den Globus greifen Fernsehstationen vom Satelliten deren Tonsequenz ab. Laut der NYSE ist es eines der am meisten ausgestrahlten News-Elemente weltweit.
Korte selbst wird der NYSE vorderhand treu bleiben. Die aktuelle Phase sei «sehr spannend» und es bestehe mehr denn je eine Nachfrage nach seinen Analysen. Und ausserdem: «Mir macht es Spass.»
Stets auf dem Laufenden: Jens Korte in New York.
Die New Yorker Börse...
...ist die grösste Wertpapierbörse der Welt. Der Wert aller Aktien der Unternehmen, die hier gehandelt werden, belief sich 2016 auf 19,2 Billionen US-Dollar. Das entspricht rund 28 Prozent der Einnahmen der Eidgenossenschaft im Jahr 2017.
Der Dow-Jones-Index ist der bekannteste Aktienindex der New Yorker Börse. Er repräsentiert die Kursentwicklung der 30 grössten amerikanischen Unternehmen wie Apple, Boeing, Coca-Cola und Disney. Seinen Namen hat er von Charles Dow und Edward Jones, die den Index 1884 erstmals veröffentlichten, weil sie Anlegern ein analytisches Mittel zur Bewertung von Unternehmen bieten wollten.
Der Wall-Street-Bulle: Symbol für steigende Kurse.