Als wir Jacqueline Keller an einem heissen Augustsonntag im Schlosshof Murten treffen, ziert ein breites Pflaster ihren kleinen Finger. Morgens hat sie Notenständer für ein Konzert aufgebaut – und sich dabei die Sehne angerissen. «Kein Drama», findet die Direktorin der Murten Classics. Sie ist stolz darauf, an diesem Abend mit Erika Baikoff eine junge Sopranistin von Weltrang präsentieren zu können, begleitet vom international gefragten Pianisten Daniel Heide. Wie kommt es, dass solche Stars im beschaulichen Murten auftreten – an diesem Abend in der Französischen Kirche vor gerade mal gut 100 Menschen?
«An den Gagen liegt es nicht», sagt Jacqueline Keller. «Die sind bei uns niedrig. Aber die Musikerinnen und Musiker lieben die familiäre Atmosphäre und die individuelle Betreuung, die wir bieten.» Das fängt damit an, dass Freiwillige die Künstlerinnen und Künstler am Bahnhof abholen – und hört noch lange nicht damit auf, dass der Festivalpräsident Daniel Lehmann mit dem Boot auf den Murtensee hinausfährt und nach dem Konzert zum Mitternachtsbad einlädt. Gut kommt auch das innovative Konzept der Murten Classics an, bei dem sich jeweils ein roter Faden durch das Festival zieht, in diesem Jahr das Thema «Geschichten».
Unermüdlicher Einsatz ist gefragt
Die Vorbereitung des dreiwöchigen Festivals ist eine Mammutaufgabe, die Organisationstalent, die richtigen Kontakte und eine tiefe Verbundenheit mit der Musik erfordert. All dies brachte Jacqueline Keller mit, als sie 2004 die Leitung des Festivals übernahm. Als ehemalige Reiseleiterin stressresistent, als studierte Opernsängerin und ausgebildete Kulturmanagerin vom Fach war sie bestens qualifiziert. Zwei Jahrzehnte prägte sie das Festival und leistete Aufbauarbeit. «Gemeinsam mit dem Vorstand haben wir in die Qualität des Musikprogramms investiert, immer bessere Orchester, Solistinnen und Solisten gebucht, um das Publikum zu begeistern.»
Damit dies gelingt – und im Hintergrund alles Organisatorische klappt, kommt es auf Präzision und Detailarbeit an. So hat Jacqueline Keller beispielsweise persönlich Plakatstellen in der Schweiz abgefahren, um die Werbeplakate optimal zu platzieren. Sie zählt die Getränkebecher für die Musizierenden auf der Bühne. Und sie geht nie ins Bett, wenn noch ein E-Mail unbeantwortet ist. «Ich verstehe mich als eine 150-prozentige Dienstleisterin», erklärt sie ihren unermüdlichen Einsatz, zu dem auch der kontinuierliche Ausbau ihres Netzwerks gehört: «In meinem Adressbuch habe ich die Kontaktdaten von CEOs von Banken und Versicherungen, von Bundesrätinnen, Behördenvertretern, Dirigenten, Geigerinnen, Sigristinnen und Hauswarten.»
Sie lebt von Begegnungen
Jacqueline Keller ist neben dem künstlerischen Direktor Christoph Mathias Mueller die einzige Person, die ein Gehalt bezieht. Über 200 Helferinnen und Helfer sind ehrenamtlich tätig, von der Logistik über das Catering bis zum Programmverkauf, und auch ihren Einsatz koordiniert die Direktorin. Dabei gibt es noch eine Besonderheit in Murten: «Bei uns öffnen die Leute ihre Häuser für die Musizierenden und beherbergen sie – das spart uns rund 14’000 Franken Hotelkosten.» Für Jacqueline Keller ist es deshalb selbstverständlich, im Winter bei den Gastgeberinnen und Gastgebern auf einen Kaffee vorbeizuschauen und zu fragen, wie es geht. Was sie gerne tut: «Ich bin ein Mensch, der von Begegnungen lebt», sagt sie. «Bei allem, was ich tue, ist meine grösste Investition die Liebe.»
«Das Glückserlebnis eines Konzertbesuchs kann man nicht mit Zahlen ausdrücken.»
Jacqueline Keller
Doch mit Liebe allein lässt sich ein Festival mit fast 8000 Besucherinnen und Besuchern nicht auf die Beine stellen. Es braucht finanzielle Unterstützung durch die Privatwirtschaft. Denn nur ein kleiner Teil des Budgets wird durch die Ticketeinnahmen erwirtschaftet. Im Laufe der Jahre sei es jedoch schwieriger geworden, Sponsoren zu finden, sagt Jacqueline Keller. «Wo früher ein Mäzen alter Schule ohne lange Entscheidungsprozesse einfach begeistert ‹Ja› sagte und eine grosse Summe spendete, höre ich heute von jungen Sponsoringverantwortlichen manchmal: ‹Was ist der monetäre Wert des Konzerts?› Aber die Emotionen, das Glückserlebnis eines Konzertbesuchs kann man doch nicht beziffern!» Umso mehr schätze sie das Engagement von Valiant für den Solistenwettbewerb.
Nach 20 erfüllten Jahren wird die 61-Jährige die Verantwortung schrittweise abgeben und nach dem Festival 2024 zurücktreten. Was dann? Unter anderem will Jacqueline Keller wieder singen und übt zurzeit ein Programm mit Liedern von Hildegard Knef ein. Für alle, die sie mit ihrem Engagement für die Murten Classics glücklich gemacht hat, steht fest: Für sie soll’s rote Rosen regnen!
Valiant Forum: Sprungbrett für Musikkarrieren
Seit 23 Jahren fördern Valiant und Murten Classics gemeinsam aufstrebende Musikerinnen und Musiker durch das Valiant Forum. In diesem Jahr wurde ein Solistenwettbewerb für Bratschen durchgeführt. Gewinnerin ist die 18 Jahre alte Bratschistin Sarah Strohm. Sie wird als Solistin an einem Orchesterkonzert der Murten Classics 2024 auftreten.
«Als junger Musiker hat man nicht oft die Gelegenheit, vor Publikum mit Orchester zu spielen», sagt der letztjährige Sieger Florian Baccuet. «Der Wettbewerbsgewinn ist deshalb eine riesige Chance.» So bestritt der 22-jährige Trompeter nun bei den Murten Classics 2023 als Solist mit der Wiener Beethoven Philharmonie ein Konzert und hatte weitere Auftritte mit seiner eigenen Blechbläserformation.
Direkt nach seinem Gewinn hat Florian Baccuet ein Masterstudium in Berlin begonnen. «Mit einem ganz neuen Selbstbewusstsein», betont er. Der Gewinn sei eine Belohnung gewesen für alles, was er und seine Eltern seit seinen Anfängen investiert hatten. Das Preisgeld von 3000 Franken hat er übrigens gleich für eine weitere Trompete eingesetzt.
Fotos: Stöh Grünig