Heinz Leibundgut, Helikopter-Chefpilot und Mitglied der Geschäftsleitung Rega, im Hangar des Rega-Centers am Flughafen Zürich.

Wie die Rega Risiken minimiert

Ortstermin in der Helikopter-Einsatzzentrale in Zürich mit Chefpilot Heinz Leibundgut.
ValOr-3.5.2022|14min
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Während ein Ambulanzjet in den Hangar des Rega-Centers am Flughafen Zürich rollt, wechselt Heinz Leibundgut, Helikopter-Chefpilot, ein paar Worte mit den Mechanikern, die an Naben schrauben oder glänzende Verkleidungen polieren. Zwei rote Helikopter stehen im Hangar – ohne Rotoren. «Anders als beim Auto kann man in der Aviatik mit dem Unterhalt nicht warten, bis etwas kaputtgeht», erklärt der 63-jährige Berner Oberländer. Zur Sicherheit werden nach einer gewissen Anzahl Flugstunden routinemässig Teile ersetzt. «Auf eine Flugstunde kommen ungefähr drei bis fünf Stunden Wartungsarbeiten.»

 


Regelmässige Wartungsarbeiten sind essenziell für die Flugsicherheit. Der ganze Helikopter inklusive Triebwerken, Rotoren und Elektronik wird in festgelegten Intervallen überprüft.

 

Strukturierte Kommunikation schon beim Frühstück

Zu den Aufgaben des Chefpiloten gehören auch die Rekrutierung und die Ausbildung der Helikopterpiloten. «Dabei zählt die Erfahrung, auch mit Nachtflügen und im Gebirge», sagt er. «Wichtig ist aber vor allem die Persönlichkeit: Bei der Rega ist Teamfähigkeit eine entscheidende Kernkompetenz.» Denn auf den 13 über die ganze Schweiz verteilten Rega-Einsatzbasen lebt die Crew – drei Personen, bestehend aus je einer Notärztin oder einem Notarzt, einer Rettungssanitäterin oder einem Rettungssanitäter und dem Piloten – jeweils 48 Stunden auf engem Raum als Wohngemeinschaft zusammen. «Da kann auch mal stundenlang nichts passieren – und dann folgt ein Einsatz auf den anderen.»

Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen seien essenziell, damit alles reibungslos läuft und alle Risiken so weit wie möglich minimiert werden. «Das fängt mit dem Briefing beim Morgenessen an: Ist heute ein Training eingeplant – oder spezielle Aufgaben auf der Basis? Was könnte unerwartet passieren? Wie sind die Wetterbedingungen? Sind alle ‹fit to fly›? Oder ist jemand stark erkältet – und hätte deshalb Mühe bei einem Einsatz auf 4500 Metern Höhe?» Bereits dieses Morgenbriefing ist durch eine Checkliste strukturiert.

 


Für die optimale Versorgung der Patientinnen und Patienten sind Teamarbeit und präzise Planung entscheidend: Gefahrenszenarien werden analysiert, Verantwortungsbereiche und Aufgaben klar abgesteckt.

 

Reibungslose Abläufe durch standardisierte Prozesse

Ob eine abgestürzte Wanderin in der Dunkelheit mit der Rettungswinde aus einer Schlucht gerettet oder ein Rentner nach einem Herzinfarkt von der Kleinen Scheidegg durch die Hochnebeldecke ins Spital Interlaken geflogen werden muss: Entscheidend für sichere Einsätze und die perfekte Zusammenarbeit der jeweils dreiköpfigen Crew sind standardisierte Abläufe. Die Standard Operating Procedures (SOP) der Rega halten diese verbindlich fest. «Die Prozesse, die Einsatzmittel und die verwendeten Begriffe sind überall identisch», sagt Heinz Leibundgut. «Damit zum Beispiel ein Pilot aus dem Engadin mit einem Rettungssanitäter aus Locarno und einer Notärztin aus Erstfeld sofort losfliegen kann.»

Das medizinische Personal wird für den Einsatz im Helikopter speziell geschult. «Dabei geht es um simple Dinge wie: Wann und wo darf man bei einem Nachtflug die Kabinenbeleuchtung anstellen, ohne den Piloten zu stören? Wie ist das Handzeichen, wenn der Funk ausfällt?» Aber auch um weniger Banales: So trainieren die Crews auch den Einsatz der Rettungswinde mit dem 90 Meter langen Seil, an dem die Notärztin im Notfall zu einem Patienten heruntergelassen wird. Und dies auch in der Nacht und mit dem Einsatz von Suchscheinwerfern.

Alle haben ein Vetorecht

Lässt sich durch die SOP denn jedes Risiko erfassen – und ausschliessen? Vorschriften seien essenziell, sagt der Chefpilot. «Aber nicht alle Situationen lassen sich in einem Handbuch eins zu eins abbilden.» Weil die Crew-Mitglieder sich sehr gut kennen und wissen, wie das Gegenüber funktioniert, können sie im Einsatz effizient zusammenarbeiten und auch auf unvorhersehbare Ereignisse rasch reagieren. Zu sehr einengen solle man die Crew nicht, findet Heinz Leibundgut. Statt «Darf ich das?» sei es manchmal besser, «Kann ich das?» zu fragen. Aber Abweichungen von der Norm sind nur dann sinnvoll, wenn es die Situation erfordert und sie durch die Crew nach Evaluation aller Möglichkeiten als richtig beurteilt werden.

Und wenn es einmal richtig brenzlig wird? «Dann sind alle total fokussiert. Wenn einem das eigene Bauchgefühl sagt, das kommt für mich nicht mehr gut, darf jede und jeder das Veto einlegen. Das kann der Pilot sein, der merkt, dass die Leistung des Helikopters nicht mehr stimmt, weil ein fallender Föhnwind den Auftrieb minimiert.» Aber auch die Notärztin oder der Rettungssanitäter könne entscheiden: bis hierhin und nicht weiter. «Grundsätzlich ist es immer schwieriger, ‹Nein› zu sagen als ‹Ja›», sagt der vierfache Vater. «Man will den Menschen ja helfen. Oberste Priorität hat jedoch die Flugsicherheit. Die Familien zu Hause erwarten, dass wir wieder nach Hause kommen.»

Effiziente Einsätze durch eine klare Rollenverteilung

Um in kritischen Situationen den Überblick zu behalten, ist das Vermeiden von Missverständnissen wichtig. Deshalb wird bei der Kommunikation während eines Einsatzes nichts dem Zufall überlassen. Aufträge, Auskünfte und Rückmeldungen klar zu formulieren, wird im Rahmen des «Aeromedical Crew Resource Management» trainiert. «Das hat sich aus der Linienfliegerei entwickelt, wo Unfälle passiert sind, weil sich Untergebene nicht trauten, Vorgesetzte auf Fehler anzusprechen», erläutert Heinz Leibundgut. «Hierarchiefragen gibt es bei unseren Einsätzen ohnehin nicht. Die Rollenverteilung ist klar: Als Helikopterpilot trage ich die Verantwortung für das Luftfahrzeug. Sobald wir gelandet sind, assistiere ich der Notärztin und dem Rettungssanitäter bei der medizinischen Versorgung und ziehe auch mal Medikamente auf.» Zugleich achte er auf sich ändernde Wetterverhältnisse, auf objektive Gefahren und fungiere als «sprechende Uhr». Denn Ziel sei es, nach spätestens 20 Minuten wieder aufzubrechen. «Sobald ich die Diagnose von der Notärztin erhalten habe, melde ich mich bei der Rega-Einsatzzentrale, quasi unserem vierten Crew-Mitglied. Die Einsatzleiterin koordiniert und meldet den Patienten im Zielspital an. Ich helfe, die verletzte Person in die Kabine zu bringen – und dann bin ich wieder Kommandant und starte die Flugvorbereitungen.»

 


In der Einsatzzentrale in Zürich werden jährlich über 14'000 Einsätze koordiniert. Dank der 13 Einsatzbasen erreichen Rega-Helikopter auch abgelegene Einsatzorte innerhalb weniger Flugminuten.

 

Und wenn doch einmal eine Rettungsaktion abgebrochen werden muss? «Das geht einem nah», sagt Heinz Leibundgut, «vor allem wenn Kinder, Rettungskräfte oder womöglich Menschen, die man persönlich kennt, betroffen sind.» Grundsätzlich sei für die Rega das Problem aber nicht erledigt, wenn keine Rettung aus der Luft möglich sei. Zur Not müssen die Bergretter des Schweizer Alpen-Club SAC zu Fuss ausrücken. Diese werden ebenfalls von der Rega-Einsatzzentrale aufgeboten und koordiniert.

Das Wetter: nicht immer ein Teamplayer

Dichter Nebel, Regen oder Schneefall können einen Einsatz eines Rega-Helikopters verunmöglichen. Pro Jahr können in der Schweiz gegen 600 Menschen in Not wegen schlechten Wetters nicht aus der Luft versorgt werden. «Unsere Vision lautet aber: Retten, überall und bei jedem Wetter», erklärt Heinz Leibundgut. Um dies bei geringstmöglichem Risiko zu verwirklichen, hat die Rega in den letzten Jahren gemeinsam mit Partnern innovative Lösungen entwickelt und viel investiert: So wurden alle Helikopterpiloten im sogenannten Instrumentenflugverfahren ausgebildet, das Flüge auch bei schlechtester Sicht oder durch Wolken ermöglicht. Weiter wurden schweizweit etwa 60 neue Wetterstationen und Webcams mit sehr guter Nachtsicht installiert: an strategisch wichtigen Punkten wie Alpenübergängen oder auch bei Spitälern. «Damit der Pilot weiss: Wie sieht es aus, wenn ich aus den Wolken herauskomme und die letzten paar hundert Meter auf Sicht fliege?» Zudem wird die hochmoderne Flotte im Jahr 2023 durch drei allwettertaugliche Helikopter mit beheizbaren – und darum nicht vereisenden – Rotorblättern ergänzt. Eine neue Rega-Drohne fliegt selbstständig grossflächige Gebiete ab. Sie kommt bei Sucheinsätzen für vermisste, verletzte oder erkrankte Personen ergänzend zum Einsatz.

 


Solche Bilderbuchbedingungen herrschen nicht immer: Pro Jahr können in der Schweiz etwa 600 Patientinnen und Patienten wegen schlechten Wetters nicht aus der Luft versorgt werden.

 

Viel Potenzial sieht Heinz Leibundgut im Ausbau des schweizweiten Netzwerks mit Instrumentenflugrouten. «Als Pilot kann ich damit zum Beispiel von der Rega-Basis bis zum nächsten Spital bei schlechter Sicht einer im Bordrechner gespeicherten Flugroute nachfliegen: wie auf einer Autobahn. Ein entscheidender Sicherheitsgewinn», sagt Heinz Leibundgut, «der dazu beitragen wird, dass wir in Zukunft noch seltener Flüge absagen oder abbrechen müssen. So können wir künftig noch mehr Menschen in Not helfen. Und das ist es, was uns jeden Tag motiviert.»

 


 

Zur Person

Heinz Leibundgut ist seit 1999 bei der Rega, seit 2011 ist er Helikopter-Chefpilot, Leiter des Bereichs «Helikopter Verfahren und Training» und Mitglied der Geschäftsleitung. Der 63-Jährige brennt für seinen Beruf: «Die Vielseitigkeit der Fliegerei, gepaart mit der innovativen Bereitschaft der Rega, etwas zu bewegen: Das ist einmalig. Vor allem aber ist es bereichernd, wie man mit perfekt abgestimmter Teamarbeit Hilfe leisten und Menschenleben retten kann.» Der erfahrene Pilot wiederholt – wie alle anderen – alle sechs Monate einen fliegerischen Check im Rega-eigenen Flugsimulator. Begonnen hat er seine Karriere als «Heliwäscher» auf dem Militärflugplatz Interlaken, bei der Berner Oberländer Helikopter AG. Es folgten die Lehre zum Polymechaniker, die Ausbildung zum Berufshelikopterpiloten in den USA, dann zum Helikoptermechaniker und -fluglehrer. Von Grönland bis Peru und mit Einsätzen in der Nordsee sammelte er viele Stunden Cockpiterfahrung.

 

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